Stimmen am Scheideweg…
oder Die Seele, nach dem Sieg II
Ein Liebesbeweis am Národní divadlo: To Havel with love. Zu Ehren von Václav Havel widmete das Prager Nationaltheater mit seinem Festival Pražské křižovatky/Prague Crossroads vom 4. bis 9. Oktober 2016 dem 2011 verstorbenen Theatermacher und Präsidenten der Tschechischen Republik 27 Jahre nach Beginn der samtenen Revolution 80 Stunden anlässlich seines 80. Geburtstages: 22 Veranstaltungen an sieben Tagen; Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch im Gespräch mit Jáchym Topol; die hauseigene Produktion Das Mausexperiment als Utopieversuch; Gastspiele aus Weißrussland, Russland und der Ukraine.
Gebaut zwischen 1977 und 1983 neben dem alten Nationaltheater am Ufer der Moldau, hängt der glasummantelte Bau der Nová Scéna dunkelfarben und kubusförmig gestützt auf vier Betonpfeilern. Im Inneren sind es die grünen Marmorplatten auf vier Etagen, die absurderweise ihren Beitrag zu einer sakralen Grundstimmung liefern. Das Crossroads-Festival fand statt auf dem Theatervorplatz (Piazzeta), dem Zwischendeck, dem Café Nova und dem Foyer, das zum eigentlichen Saal führt, der auch Heimspielstätte für die weltbekannte avantgardistische Theatertruppe Laterna magika ist. Das Fest zu Ehren Václav Havels spürte aber auch in symbolischer Hinsicht einem Scheideweg nach, an dem mit viel Verve Stimmen im Zweifel an der Gegenwart zu Wort kamen.
Die Riesen vom Berge
Bei Luigi Pirandello sind es die Ausgestoßenen der Gesellschaft, die in der Villa „Missgeschick“ auf eine Schauspielertruppe treffen, denen die Requisiten fehlen und die versuchen, das Stück aus der Phantasie heraus zur Aufführung zu bringen. Václav Havel vereint beide Seiten dieser Medaille. Darauf macht eine Ausstellung im Zwischendeck aufmerksam. An den Wänden hängen Plakate mit Dokumenten von Amnesty International. Im Falle von Jirina Siklová, Petr Uhl, Ivan Martin Jirous und Václav Havel werden Menschenrechtsverletzungen öffentlich gemacht. Die Jahreszahl auf allen Aushängen: 1989. Man muss natürlich wissen: Václav Havel konnte seinem Schulkameraden Miloš Forman (Einer flog über das Kuckucksnest, 1975) nicht an die Filmhochschule folgen, da ihm nach Beendigung der Schulpflicht 1951 das Ablegen des Abiturs versagt blieb.
Er wurde Taxifahrer, um sich die Abendschule zu finanzieren, leistete einen zweijährigen Wehrdienst ab und begann 1954 als Bühnentechniker am Theater ABC und im Theater am Geländer. Er begann im Stil des absurden Theaters Stücke zu schreiben, darunter Das Gartenfest, Das Memorandum oder Die Erschwerte Möglichkeit der Konzentration. Kulturpolitisch trat Havel auf dem IV. Schriftstellerkongress im Jahr 1967 in Prag hervor und kritisierte öffentlich die seitens der Kommunistischen Partei vollzogene Zensur. Er unterstützt als Vorsitzender des „Klubs unabhängiger Schriftsteller“ 1968 die von Alexander Dubček eingeleiteten Reformen, die im Zuge des Prager Frühlings zurück genommen wurden. 1977 war Havel einer der drei Hauptinitiatoren der Charta 77. In der Folge wurde er dreimal verhaftet und saß insgesamt fünf Jahre im Gefängnis. Nach internationalem Protest Anfang der 80er Jahre freigelassen, kam Havel im Januar 1989 wegen „Rowdytums“ für neun Monate erneut in Haft. Als Kandidat des Bürgerforums Občanské fórum (OF) wurde Václav Havel am 29. Dezember 1989 zum Staatspräsidenten gewählt.
Vor diesem Hintergrund stellt sich heute die Frage, welcher Formsprache diese Ausstellung anhängt. Für die Sorte „(Anti-)Kommunismus im Museum“ ist sie zu naiv. Für eine künstlerische Installation zu sehr um Tatsachen bemüht. Zufälligerweise gesellen sich just Klänge aus dem Foyer hinzu. Dort wird die Inszenierung der Bearbeitung von Protest, eines der weltweit bekannten Theaterstücke Havels, durch Marek Hejduk Protest/Rest (Theater Švandovo, Regie: Daniel Hrbek) gespielt. Diese Klänge gleichen Choralgesängen und mögen eine Etage weiter an eine Tradition kollektiver Passion im stalinistischen Kirchenstaat erinnern. Als sonore Illustration der Herzenssache im Zwischendeck gedeutet, drängt sich hier die Perspektive einer Heldenverehrung auf.
Bestätigung liefert dafür die TV-Dokumentation mit und über den eher anti-heldisch wirkenden Mitfünfziger: „Go Havel! Go Havel!“, liest das Auge im Untertitel auf dem Bildschirm bei einer Massenkundgebung. Über den Schirm flackern Bilder von Havel mit Bademantel (gähnend) und Morgenkaffee, von Havel im Anzug (formell) den Salut der Leibgarde abnehmend. Bilder, die ihn mit befreundeten Künstlerkollegen und Weggefährten zeigen, wie sie die Schleusen zum Atombunker des Vorgängers, Gustáv Husák, in gewaltiger Tiefe unter dem Schloss öffnen. „Sie waren wirklich beängstigt, der Krieg könne ausbrechen, während sie bei einem Empfang stehen und anstoßen, dass dann jemand sagen würde ‘Der Krieg hat begonnen!’ und sie würden einen Knopf drücken und elf Stockwerke hinabfahren!“, berichtet Havel lachend, nur: „Der Fahrstuhl war noch nicht fertig!“
Der Atombunker war die teuerste Investition in der Geschichte der „Villa“, der Prager Burg auf dem Hradschin. Die Abgründe des Kalten Krieges mögen Beobachter bereits als Erbmasse aus dem Ersten Weltkrieg sehen, als Woodrow Wilson und Lenin sich noch darin überboten, welche politische Grundordnung dem Recht der Völker auf Selbstbestimmung besser auf die Beine helfen würde, das mit Privateigentum an Produktionsmitteln oder das ohne. Wie sollte es gelingen, diese Abgründe abzuschütteln?
Man muss auch hier wissen: Die Tschechoslowakei ging als unabhängiger Staat nach dem Ersten Weltkrieg aus der Habsburger Monarchie hervor und bestand bis zum Münchner Abkommen 1938, mit dem Hitler-Deutschland das Sudetenland in das „Großdeutsche Reich“ integrierte und das Protektorat Böhmen und Mähren entstehen ließ. Erster Staatspräsident war bis 1935 der Philosoph und Schriftsteller Tomáš Garrigue Masaryk, der in der Ortschaft Lány verstarb.
An dieser Stelle ist Havels Lebensweg als Theatermensch gefragt, wenn die TV-Dokumentation seine Kompetenzen als Zeremonienmeister erfragt und Havel verkündet: „Wenn heute die ersten Elemente der Marktwirtschaft bestimmend und rechtmäßig in unsere Leben einziehen, dann muss in diesen Tagen notwendigerweise bedacht werden, dass die Nation auch ein Phänomen mit einer spirituellen Tragweite ist.“ Angelehnt an die Rundfunksendungen Woodrow Wilsons, erfand man die Gespräche aus Lány. Der Präsident sollte über einen Kanal verfügen, über den er direkt kommuniziert. Die Idee dazu hatte der ehemalige Botschafter in Washington und London, der Havel-Biograph und heutige Direktor der Václav Havel Bibliothek in Prag, Michael Žantovský.
Die Raum-Zeit in den Secondhand-Gesellschaften
Ein Streifzug durch das Festivalprogramm lässt einen zentralen Schwerpunkt auf das aktuelle Geschehen und die derzeitigen Geschicke in den osteuropäischen Nachbarländern ausmachen. Stimmen im Zweifel an der Gegenwart kamen zu Ehren Václav Havels aus Weißrussland (Belarus Free Theatre, Time of Women, Regie: Nikolai Khalezin), aus der Ukraine (DAKH Theater Kiev, Dreams of Lost Roads, Regie: Vladyslav Troitskiy) und aus der Russischen Föderation (Teatro Di Capua, A Life for the Tsar, Regie: Giuliano Di Capua). Diese Inszenierungen zeigen auf, dass sich das von Lew Dodin einst mit Gaudeamus begonnene „Fröhliche Fracking“ in den letzten 27 Jahren ausdifferenziert hat. Zu wünschen wäre diesen Arbeiten eine weitergehende Beachtung, die ihre formsprachlichen wie inhaltsgebundenen Eigenschaften im Verhältnis zur sozialen Kohärenz in ihren jeweiligen Gesellschaften würdigt.
Vielleicht hätte ein Gastspiel aus Polen diesen zentralen Schwerpunkt bereichern können. Die aktuelle Entwicklung trägt in symbolischer Hinsicht mit der Heldenverehrung für General Józef Piłsudski gerade dort der Programmatik des Künstlerpräsidenten Havel diametral entgegengesetzte Züge. Ähnlich die Situation in den Ländern des Baltikums. Es schadet nicht, um die konstante Konfliktachse im Raum-Zeit-Kontinuum der nicht zuletzt spirituellen Grenzstreitigkeiten im Osten der Europäischen Union zu wissen: Aus der Erbmasse der Romanow Monarchie entstanden, weil die Bolschewiki 1918 vergeblich auf eine sozialistische Revolution in Deutschland warteten, eint diese Länder im Osten thematisch die Suche nach „Identität“ nicht erst seit dem Zerfall der gemeinsamen Vergangenheit im stalinistischen Kirchenstaat. Wahrlich wundern muss man sich nicht über die seit der Zeitenwende von 1989/1992 in Umlauf gebrachten krassen nationalistischen, zuweilen völkischen und christlich-fundamentalistischen Töne. Das Deutsche Heer setzte seine Ordnungsvorstellungen auf Romanowschem Territorium – trotz Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk (März 1918) – durch, an der Westfront (gescheiterte Frühjahrsoffensive) kapitulierte es und Woodrow Wilson muss wohl am Ende des Ersten Weltkrieges (November 1918) vergessen haben, eine Grenze auszuhandeln. So brach nach Beginn des „Präventivkriegs“ von General Piłsudski – unterstützt von Großbritannien und Frankreich – gegen Sowjetrussland (1919) ein Bürgerkrieg (bis 1921) los, der bei Eintreffen der Kavalleristen Budjonnyjs zur Rückeroberung der gesamten Ukraine (1920) führte, aber auch zur Überschreitung des Zbruč, wie es in Anlehnung an den von Caesar überschrittenen Rubikon in Die Reiterarmee bei Isaak Babel, dem Literaten aus Odessa, sehr lesenswert schon im Titel des ersten Kapitels heißt.
Andererseits, in der Literatur wie im Theater zählen die zwischenmenschlichen Beziehungen in diesem Raum-Zeit-Kontinuum, nicht die Daten und Intrigen einer politischen oder historischen Entwicklung. In ihrem Roman Secondhand-Zeit spürt die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch dieser Konfliktachse nach. Wie einst Isaak Babel gibt sie Stimmen einen Ausdruck, die zwischen Raison d’État und individuellen Gefühlen, Wünschen und Hoffnungen zerrieben sind.
Auf der Bühne des ausverkauften Theatersaals der Nová Scéna kam sie ins Gespräch mit dem tschechischen Kultautor Jáchym Topol, der im Theater mit seinem Theaterstück Die Reise nach Bugulma bekannt geworden ist. Topol arbeitet sich darin an einem in der tschechischen Literaturgeschichte offenen Geheimnis ab, demnach Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk von Jaroslav Hašek mit seinen Aktivitäten als Politoffizier ohne Waffe auf seiten der Roten Armee in Bugulma während des Bürgerkrieges zu tun haben. Die Ortschaft Bugulma wird bei Topol ikonenhaft zum Inbegriff des stalinistischen Gulagsystem stilisiert, in dem jegliche kommunistische Utopievorstellung distopisch zerbröselt und als Leichenberg endet. Ähnlich arbeitet sich Alexijewitsch an der bis heute nachwirkenden Vergangenheit ab. Einmal sagte sie, sie schreibe nun seit fast vierzig Jahren an einem einzigen Buch, an einer russisch-sowjetischen Chronik: Revolution, Gulag, Krieg, Tschernobyl und der Untergang des „roten Imperiums“.
Nach kurzer aber herzlicher Begrüßung leitet Topol über in die Zeit der Sowjetunion, in die Zeiten von Glasnost und Perestroika, in die Zeit des Umbaus der Gesellschaftsordnung. Ausschnitte aus Secondhand-Zeit werden gelesen. Es ist ein Panorama der Schicksale nach dem Zerfall des stalinistischen Baus. An einer Stelle kommt Jáchym Topol darauf zu sprechen, dass sie in Prag wären und er Tscheche sei. Er drückt sein Befremden über den russischen, slawischen Patriotismus aus, der für ihn kein Thema sei. Topol fragt, worin diese Liebe zum Vaterland wurzelt, die es ermögliche, für Stalin (gemeint ist Iosseb Dschughaschwili) zu sterben, obwohl dieser für die Zerstörung der Kultur stehe?
Darauf antwortete Alexijewitsch in zweierlei Hinsicht. Einerseits sei sie an Literatur interessiert und nicht am Patriotismus. Sie interessiere sich für die Mentalität, für die kulturellen Codes, die sich hinter den Schicksalen der Menschen verbürgen. Sie interessiere sich nicht nur für den Menschen als Teil eines zeitgeschichtlichen Ablaufes, sondern als ein konkretes Individuum im Raum, das in der Welt existiere. Andererseits könne man Stalin in diesem Zusammenhang betrachten. Die Leute, die in der Zeit Stalins gelebt haben, wären von ihm abhängig gewesen. Und Alexijewitsch ergänzt, Russland wäre schon immer ein totalitäres Land gewesen und Russland, die russischen Menschen hätten zwar immer versucht, sich von den totalitären Ketten zu befreien, was aber immer ohne Erfolg blieb. Es sei diese Bewegung, welche die russische Kultur bestimme, die frustrierend wäre, weil sie sich nie im Ideal verwirkliche.
Alexijewitsch bringt ein Beispiel aus ihrem ersten Buch Der Krieg trägt kein weibliches Gesicht, von dem sie mitteilt, es würde bald in tschechischer Sprache erscheinen. Darin käme eine Frau vor, die wisse, sie würde bald sterben. Der Faschismus sei ein großer Feind. Sie wolle eigentlich nicht im Frühling sterben. Plötzlich hörte sie Vögel singen. Sie beginnt, alles um sich herum zu sehen. Sie sieht eine Blume, die erblüht. Sie sieht Farben. Es sei eine Frau, die zu schreien beginnt, angesichts ihres Schicksals, das sie nicht ändern kann. Und an dieser Stelle, da entstehe Literatur, so Alexijewitsch.
Als gäbe es in Tschechien keinen Nationalismus, der ein Denken in den Kategorien der „ethnischen Reinheit“ kennt, erkundigt sich jemand aus dem Publikum, ob es nicht eine ethnische Frage sei, ob es nicht Nationen gebe, „die die Tendenz zum Totalitarismus haben, wo das Volk selbst den Wunsch hat, dominiert zu werden“ – Das wisse sie nicht, gibt Alexijewitsch zur Antwort. Man könne nicht sagen, dass die Deutschen eine Nation mit einer Tendenz zum Faschismus seien. Es gäbe aber einen Moment der Tendenzen, in der ein Geist Meinungen formt, die zu dieser Totalität führen können. Lese sie in den Zeitungen davon, Lukaschenko sei ein Diktator oder Putin sei ein Diktator, sehe sie die Spitze eines Eisberges, unter der ein ganzes Volk sei, eine ganze Nation. Und diese Worte hebt Alexijewitsch in allen ihren Büchern hoch, um nachzuprüfen, was haltbar ist und was nicht. So ist auch Secondhand-Zeit eine Collage aus Stimmen aus dem Alltag, für das Alexijewitsch in Abgrenzung zu den Banalitäten der politischen Konfrontationssuche betont, immer einen metaphysischen Zugang zu haben.
Ihre Bücher folgen einer Ästhetik, die sie im Laufe der Zeit perfektionierte. Erst schrieb sie Ich habe das Dorf verlassen, das 1976 nicht erscheinen durfte, das Alexijewitsch selbst aber auch zu journalistisch geraten war. Sie probierte weiter, schrieb Kurzgeschichten und Essays, spürte den Stimmen in ihrer unmittelbaren Umgebung nach. Es sind Stimmen am Scheideweg, die sie interessieren. Es kam zu einer Begegnung mit dem weißrussischen Schriftsteller Ales Adamowitsch. Er war um eine neue literarische Methode bemüht, die er „kollektive Novelle“ nannte. Beide einte der Wunsch nach einer größtmöglichen Annäherung an das wahre Leben. Bei der Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels im Jahr 2013 gab sie ihrem Publikum mit auf den Weg: „Flaubert sagte von sich, er sei ‘ein Mensch der Feder’, ich kann von mir sagen: Ich bin ein Mensch des Ohres.“
Should the Numbers Count?
Der Humor und beißende Wortwitz in den Theaterstücken Václav Havels ließ sich in einem Streifzug entlang der Orte des Festivalgeschehens entdecken. Unter freiem Himmel gastierte das Theater Husa na provázku mit Havels Theaterstück Das Schwein (Regie: Vladimir Morávek) auf der Piazzeta. Das Stück Asanace fand Anklang gleich bei zwei verschiedene Interpretationen im Theatersaal, einmal das Gastspiel aus Hradec Králové (Regie: Andrej Krob) und einmal das Gastspiel des Theaters Ivana Franka (Regie: Břetislav Rychlík). Zwei verschiedene Aufführung erlebten im Foyer Interpretationen von Vernisáž, einmal vom Studenti DAMU (Regie: Miroslava Pleštilová) und einmal vom První část projektu (Regie: Ivan Buraj). Einem Reenactment vergleichbar versuchte sich das Theater Petra Bezruče in Audience (Regie: Štěpán Pácl) im Stil des sozialistischen Realismus. Auffällig war bei einigen Stücken der Hang zur Werktreue, gewiss, um die bei Havel angelegten Absurditäten nicht zu gefährden. Allerdings ist Kommunisten-Bashing 27 Jahre nach Beginn der samtenen Revolution zwar weiterhin lustig, aus Zuschauersicht aber auch irgendwie langweilig.
Auf der Suche nach zeitgenössischen Misstönen fiel die hauseigene Inszenierung Das Mausexperiment von Jiri Havelka (Regie), Martina Slukova (Autorin) und Marta Ljubkova (Dramaturgie) auf. Thematisch verhandelt es die totalitären Weltbezüge im zeitgenössischen Szientismus und passte damit stärker zum zentral gesetzten Programmschwerpunkt. Am Eingang erhält das Publikum eine Mausmaske aus PVC. Als Teilnehmer einer wissenschaftlichen Konferenz ist der Theatersaal der Nová Scéna umgebaut in einen Sitzungssaal. Auf der Bühne liegen halb sichtbar abgehackte Mausschwänze zwischen den Teppichkanten. Rechter Hand ein Pult, dahinter ein überdimensioniertes Laufrad. Mittig ein mit grünen Marmorplatten ausgestatteter Konferenzpult für drei Wissenschaftler: Soziologin, Psychologin, Biologe. Gleich dahinter ein ebenso ausgestatteter Konferenzpult für einen Wissenschaftler: einen Philosophen. Linker Hand ein Sessel, eine Treppe und ein Futtertrog, aus dem Hörnchen fallen, dahinter ein Vorhang, auf dem links und rechts Monitore befestigt sind. Zwischen ihnen sichtbar und verbindlich für alle, das Symbol der UN, übertüncht mit einem Mauskopf. Wir sind eine Mäusegesellschaft, so viel ist klar. Verhandelt werden die Grundlagen unseres Zusammenlebens auf der Basis von Zahlenwerten: Geburtenrate und demographische Veränderungen, Sozialverhalten und Selbstmordrate, soziale Stressbelastung und Freiheit, Umgang der jüngeren und älteren Gesellschaftsmitglieder miteinander.
Die Konferenz beginnt mit einem Ausschnitt aus einem Dokumentarfilm [video] über das Maus-Experiment des us-amerikanischen Ethologen und Behavioristen John B. Calhoun. Weit zurück in den 60er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts siedelte Calhoun im Auftrag des Instituts für geistige Gesundheit ein Paar Mäuse in einem Habitat an, das für sie die günstigsten Bedingungen des Überlebens sicherte. Das Forschungsergebnis ist simpel: Je höher der Grad der Bedürfnisbefriedigung dank extern gesicherter Faktoren, desto schneller verlieren die Mäuse ihre Sozialkompetenz, entfalten aggressives Verhalten untereinander oder ziehen sich zurück, bevor die Population, nach einem Maximum an demographischer Expansion, schließlich ganz ausstirbt. Und diese Eigenschaften der Spezies Maus werden eins zu eins auf die Spezies Mensch übertragen. Soweit das Setting der Inszenierung.
Wir Mäuse-Wissenschaftler wissen um die dramatische Lage unserer Spezies und versuchen auf der Konferenz gemeinsam das Maß an Glück zu eruieren, das alle zur sinnvollen Lebensgestaltung ermächtigen soll. Sehr zum Vergnügen werden qualitative Fragen in Dialogen zwischen Zuschauersaal und Bühne ausgebreitet, aber in rein quantitativen Maßstäben bewertet. Eine herrliche Parodie auf mit Zahlenwerten operierende Umfragen, Forschungsstudien oder auch in Think Tanks ausgebreiteter Ansichten, die nicht selten Handlungsempfehlungen für Politikgestaltung enthalten und in Funk und Fernsehen Verbreitung finden. Einen zynischen Höhepunkt entfaltete die Inszenierung deshalb mit dem Absingen von We shall overcome, des Klassikers der us-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, der in der Tschechischen Republik ein fester Bestandteil im Repertoire der symbolischen Formen, der spirituellen Tragweite des Nationbuildingprozesses seit 1989 ist. Über diesen zynischen Kommentar kommt die Inszenierung aber auch nicht hinaus. Allerdings: Es stirbt als letzter Vertreter unserer Art auf Erden auch der Philosoph und damit der Präsident der Konferenz. Wenn das keine Anspielung auf den Künstlerpräsidenten Václav Havel ist? Bloß auf die Idee, den Futtertrog zu untersuchen, kommt wieder niemand. Wäre das sakrosankt? Es bleibt ein einziges Missgeschick. Humorvoller geht es nicht, am Scheideweg zwischen Ideal und Wirklichkeit. Für diese gewitzten Feinheiten ist die tschechische Kultur bekannt, es ist eine gewisse Leichtigkeit des Seins. Havel hätte sich gefreut, bestimmt!
Published on 28 October 2016 (Article originally written in German)