-> read in english

S.O.S. Einkapselung… oder die Seele nach dem Sieg III

©Herwig Lewy

Das Rätsel des Internationalen Theaterfestivals ist sein Name: Interferences. Mit der sechsten Ausgabe tritt das seit 2008 im Zweijahresrhythmus ausgetragene Turnier um die kollektiven Vorstellungen in Cluj-Napoca in diesem Jahr mit dem Thema Krieg an. Vom 22. bis zum 30. November 2018 kamen 16 Ensembles aus 13 Ländern nach Transsilvanien, einer kulturellen Schnittstelle unterhalb des Karpatenbogens seit der Antike.

An jeder Ecke der Stadt wird die kulturelle Vielfalt und Mehrsprachigkeit spürbar. Beheimatet sind hier diverse Erfahrungsräume entfernter Vergangenheiten, die in ihrem sprachlichen Ausdruck heute täglich als ungarisch, rumänisch und mitunter auch noch als deutsch aufeinander treffen. Die Memorialkultur der Stadt mit dem Namensdreieck lässt Besucher ob der alltäglichen Überlagerungen staunen und wundern, denn neben Cluj-Napoca existieren auch die Bezeichnungen Kolozsvár und Klausenburg. So sind die beiden Stadtzentren, ein ungarisches und ein rumänisches, miteinander verbunden über eine Straße, auf der die Plastik eines Mythos aufgestellt wurde. Es ist der Mythos der Gründungsgeschichte Roms – eine Wölfin, die Romulus und Remus nährt, auf einem marmorsteinummäntelten Sockel mit einem Konterfei Trajans, darunter die Aufschrift: Alla Citta di Cluj – Roma Madre – MCMXXI. Dem Besucher stellt sich die Frage: Handelt es sich bei diesem noch jungen Memorial um eine Reminiszenz auf das Jahr 1921, indem Rom als matrilinearer Ursprung für die Stadt Cluj-Napoca inszeniert wird?

Zeit ist Konvention

Wer von Außerhalb kommend die Plastik betrachtet, sucht nach Worten, um zu verstehen, welche Art der représentation hier einen Ausdruck findet. Nach alltagspolitischen Maßstäben beurteilt, mag sicherlich eine Sinnstiftung beabsichtigt gewesen sein, um den Herausforderungen nach der Zeitenwende von 1989/1992 zu begegnen. Eine Anknüpfung an die Gründungsmythen des Nationbuildingprozesses nach der Staatsgründung Rumäniens von vor einhundert Jahren als Resultat der Versailler Friedensverhandlungen hat aber zu sehr verschiedener gesellschaftlicher Beachtung gefunden. Festivaldirektor Gábor Tompa gibt zur Eröffnung des Festivals im ungarischen Theater von Cluj-Napoca einen Hinweis dazu, sowohl in seiner Anrede im Festivalkatalog, als auch in seiner persönlichen Ansprache: Das Thema des Festivals sei Krieg. Es seien nun einhundert Jahre seit dem Ende des Ersten Weltkrieges vergangen. Seine Friedensverhandlungen hätten die Karte Europas auf dramatische und tragische Art neu geordnet. Zugleich hätten sie aber auch kriegsähnliche Konflikte auf unbestimmte Zeit bis heute verlängert. – In seiner Ansprache stellt er dem Publikum direkt die Frage: „Wie können wir an Krieg in anderer Weise als daran erinnern, dass Verlierer an Verlierer erinnern?“ – „Denn in einem Krieg gibt es keine Gewinner!“, so Tompa.

Aus Zuschauersicht macht seine Anregung das Festivalprogramm in all seinen Facetten gleich sehr viel schneller nachvollziehbar. Die gewählte Jahreszeit im Festivalkalender ist die Zeit der mentalen Schwere in Europa. Der Herbst geht über in den Winter und die Tage werden kürzer. Und draußen zirkuliert nur noch Nebel. Theater als Fest braucht einen solchen stabilen sakralen Anker, der sich in einer periodischen Abfolge in Abhängigkeit von der Jahreszeit stets neu realisiert. Mit dem Wort „sakral“ schwebt mir, der ich im Zuschauerraum den Worten Tompas aufmerksam lausche, während ich im Katalog blättere, ein bestimmtes Zeit- und Raumgefühl vor. Ich denke an den zuletzt auf meinem Tablet gelesenen Aufsatz von Henri Hubert über die Représentation du temps dans la religion et la magie von 1904. Wer sich auf das Festivalgeschehen einlässt, verlässt das normale Raum-Zeit-Gefühl des Alltages. Die sakrale Raum-Zeit-Ordnung erfasst ein Gefühl der Unendlichkeit und der Unveränderlichkeit. Eine solche gemeinsame Suche nach Sinnstiftung im Theater steht in Konkurrenz zur fixierten Memorialkultur, die Stabilität als unveränderliche Größe für den Alltag als obligatorisch vorzeigen will; eine Forderung die im Alltag zwar angestrebt, selten aber erfüllt wird.

Die nicht-fixierte Sinnstiftung ist dem Theater, das seine Ursprünge in der Magie hat, eigen. Es ist ein offenes Projekt, eine Sinnsuche. Lässt man sich aus Zuschauersicht auf das Festival ein, kommt man mit der sakralen Raum-Zeit überein. Auf diese gemeinsame Sinnsuche unter dem Vorzeichen einer gemeinsam geteilten Zeit und eines gemeinsam geteilten Raumes legt es Tompa in der Auswahl der Stücke an, wenn er in seiner Anrede im Festivalkatalog schreibt: Bei den verschiedenen Arten des Krieges gelte es, von einem Theater des Schreckens zu sprechen. Die durch Gewalt verursachten schrecklichen Trauma würden nach einem individuellen und kollektiven „Exorzismus“ verlangen. Der Fixpunkt der Sinnsuche liegt dabei in der Ähnlichkeit von Krieg und Theater, denn es seien die wechselseitigen Handlungen zweier entgegengesetzter Parteien: Eine, die die Zerstörung suche, und eine, die auf das Bedürfnis zum Wandel fokussiere, auf Selbsteinschätzung und kollektive Verantwortung.

Streicht dunkler die Geigen

Die Auswahl der verschiedenen Regiehandschriften aus unterschiedlichen Theaterfamilien in Europa steht für die Seite des Wandels, der Selbsteinschätzung und der kollektiven Verantwortung. Ein paar Festivaltage in sich aufzusaugen, verlangt vom auswärtigen Besucher eine höhere Aufmerksamkeit und das Eingeständnis, eben nicht alles sehen zu können. Die gleichzeitige Präsenz der Verkehrssprachen Englisch, Französisch, Rumänisch und Ungarisch wird dabei auch noch erweitert durch die Sprachen der Gastspiele wie Deutsch, Griechisch, Hebräisch, Italienisch, Litauisch, Polnisch, Russisch oder Serbisch. Es gibt das eng getaktete Hauptprogramm im großen Saal und im Studio. Es gibt das Rahmenprogramm im Tiff-Haus, im Tranzit-Haus, in der Paintbrush Factory und in der Quadro Gallery. Es gibt Ausstellungen und Konzerte. Und zum ersten Mal wurde eine technische Interferenz unter dem Titel Digital Hermits veranstaltet. Diese Konferenz im Tranzit-Haus versuchte den Gebrauch digitaler Technologien und ihre Auswirkungen auf das Zusammenleben der Menschen in unserer Welt zu erkunden. Ein Beitrag zum Thema Krieg, der die Konsequenzen des Kalten Krieges berücksichtigt, als das Internet entstand, um die Kommunikation zwischen Entitäten auch nach einem radioaktiven Niederschlag zu gewährleisten. Fokussiert wurde dabei auf die Benutzeroberflächen – auch bekannt unter den Namen Neue Medien – und ihre eigenen Erfahrungsräume in und mit Zeit und Raum. Als problematisch wurde dabei angesehen, dass der Dialog zwischen den Generationen zu einer Zweiteilung führt, der Gruppe von Leuten, die gänzlich ohne digitale Technologien leben, sowie der Gruppe, die ohne solche gar nicht mehr das Leben gestalten mag. Die Anbindung der Leidenschaften an die Filterblasen und Echokammern der digitalen Welt zu befragen, blieb leider aus.

Eine für die zweitausendjährige Theatergeschichte immer wieder neu virulente Frage ist: Wie verhalten sich Menschen im Krieg? – In einer Zusammenbruchskrise wechseln sich Lachen und Weinen nicht nur ab, sie können auch gleichzeitig auftreten. Des einen Leid ist des anderen nur von kurzer Freud, bis die Perspektiven aus Zuschauersicht wechseln und der Verfolger zum Verfolgten wird. Milo Rau zeigt mit seiner Arbeit Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs eine eindrucksvolle Teichoskopie, auf welche die dramatischen Elemente der griechischen Tragödie hier reduziert sind. In ihr wird dieser Perspektivwechsel im Loop performt. Die Schauspielerin aus dem Ensemble der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin, Ursina Lardi, spielt sich selbst als junge Entwicklungshelferin in Ruanda, wo sie Zeugin des Völkermordes der Hutu an den Tutsi wurde. Später stellt sie fest, dass derjenige, dem sie geholfen hatte, selbst zum Täter wurde. Die belgische Schauspielerin Consolate Sipérus spielt ebenfalls sich selbst. Als Baby ist sie von einem belgischen Paar adoptiert worden. Mehr als das Herkunftsland, Ruanda, und der Katalog mit den zur Adoption auswählbaren Babygesichtern, sind ihr nicht bekannt. Aus Zuschauersicht sind diese ungeheure Menge an sozialen Tatsachen kaum zu ertragen. Und Lardi berichtet von den Kriegsschauplätzen mit eindrucksvoller Sprachgewalt und körperlicher Präsenz, als wären diese Menge an irrationalen Handlungen gerade eben erst von ihr beobachtet worden.

Mit représentation ist genau diese sakrale Zeitebene bei Hubert gemeint. So wie ich im Zuschauersaal auf meinem Tablet einen über einhundert Jahre alten Text für mich erarbeite, um Verständnisfragen zum Bühnengeschehen nachzugehen, stellen Lardi und Sipérus Öffentlichkeit her. Nicht einfach nur eine öffentliche, also für alle einsehbare Sprechhandlung wird hier performt, zeitgleich eröffnet sich für andere Gruppenmitglieder, die nicht unmittelbar am tatsächlichen Handlungsgeschehen beteiligt sind, ein Bewusstsein für das stattfindende Ereignis. Wir nehmen jetzt und hier Einsicht in die Ereignisse, wie sie auf einem anderen Kontinent im Jahr 1994 stattfanden. Darin besteht die Qualität des Festivals, womit sich das Rätsel des Namens, Interferences, löst: Es ist der Zusammenfall aller Zeitebenen im Begriff der Humanität. Das in Europa seit der Renaissance hochgehaltene Leitbild bricht sich angesichts der seitdem und davor realisierten Gräuel genau dieser Menschheit, egal welche Hautfarbe, Sprache, Kultur oder Religion sie jeweils für sich als richtig und gut beansprucht. Die griechischen Dramenmodelle dienen dieser Qualität.

Einen Bindebogen von antiker Repräsentationsdramatik zu postdramatischen Bewältigungsversuchen zeitgenössischer europäischer Gegenwart schlägt Anna Badora vom Volkstheater Wien im Renaissancestil. Sie inszeniert eine Iphigenie in Aulis von Euripides im Format des Goldenen Schnitts, indem Iphigenie zum Ende des ersten Teils, womit die für uns nur als Fragment überlieferte Tragödie des Euripides endet, tatsächlich geopfert wird. Bei Badora beginnt der Krieg auch wirklich. Während die Schlacht tobt, gehen wir Zuschauer auf die Toilette oder an die frische Luft. Aus der zweitausend Jahre zurückliegenden Vergangenheit fallen wir im zweiten Teil in die syrische Gegenwart. Hier dient die Textgrundlage Occident Express von Stefano Massini als Spielfassung für dieselben Schauspieler, die nun als Zivilgesellschaft aus den Kriegsgebieten im Irak und Syrien den Weg nach Europa antreten.

Es heißt, Krisenschübe führen zu einem Lernprozess. Dass diesem Lernprozess Grenzen innewohnen, zeigt Gabor Tompa in seiner hauseigenen Inszenierung des Kaufmann von Venedig von William Shakespeare. Dass beide Schauspieler, Gábor Viola und Zsolt Bogdán sowohl die Rolle des Antonios und die des Shylock als jeweilige Doppelbesetzung spielen können, zeugt von der tiefen Empathie für die Figuren, die notwendig ist, um Opferrituale zu repräsentieren. Antonio, dessen Traurigkeit sich zu Beginn dem Publikum bis zum Ende des Stückes nicht erschließen mag – es sind zu Beginn nicht die Geschäfte und auch nicht die Liebe Ursache für sein Leiden –, es sind die durch Tompa in seiner Soundscape-Installation geleisteten Zitate der Milieus und ihrer Binnenmoral, die Antonio so offensichtlich traurig sein lassen wie es die spiegelverkehrte Verzweiflung des Shylock ist, dessen Opfer am Ende – analog zur Opferung Iphigenies – gebraucht wird, um eben jene Binnenmoral wieder herzustellen, nachdem die Gruppe durch eine gemeinsame Krise gegangen ist. Antonio, wie auch sein Alter Ego Agamemnon (Vater der Iphigenie und zugleich Feldherr, der seine Tochter opfert), repräsentiert in diesem Sinne die Dauerdepression eines Menschen, der weiß, dass er stets das Gute sucht, doch damit zugleich immer auch das Schlechte schafft.

Vaterland

Physisch konkrete Gestalt bekam der angestrebte „Exorzismus“ des Festivals kollektiv praktisch mit der Inszenierung Vaterland in der Choreographie von Csaba Horváth und dem Bühnenbild von Csaba Antal. Die Forte Company präsentiert Textelemente aus Die Italiener von Thomas Bernhard in einer rhythmisch-sportlichen, die Klangfarben der Bernhardschen Vorlage gestisch vorspielenden Szenenfolge. Bernhard, der in seinem Testament noch dafür Sorge tragen wollte, dass auch wirklich gar kein Text, weder Roman noch Bühnentext, Erzählung oder Gedicht, in Österreich jemals erscheint, stand auf Kriegsfuß auch mit der verschrobenen Art seiner Landsleute, mit den nationalsozialistischen Traditionen umzugehen. Der Inszenierung gelingt es, Bernhard als den Meister der plastischen Chirurgie kollektiver Passionen, die in Memorialkultur oder Devotionalien ungefragt mitzudenken sind, gelten zu lassen. Ob einem geographischen Raum dabei nun patrilinearer oder matrilinearer Ursprungscharakter zugedacht wird, ist dabei eigentlich uninteressant.

Damit schlägt das Festival einen konkreten Bogen zu den Themen der zurückliegenden Jahre. Galt es etwa noch 2014 von den Geschichten des Körpers zu berichten, fängt das Thema Krieg in diesem Jahr die Passionen – im Deutschen auch Leidenschaften beziehungsweise Affekte genannt – auf eine Art und Weise ein, durch die für die im Alltag oft schwer zu verstehenden sicherheitspolitischen Maßnahmen inhaltlich neue Zugänge vorgeschlagen werden. Das Experiment auf der formalen Seite wie etwa bei Milo Rau, ausschließlich die Teichoskopie auszustellen, wirkt dazu allerdings als allzu minimalistisch. Wir wissen nicht, ob die Schauspielerin Ursina Lardi wirklich in Ruanda und ob Consolate Sipérius wirklich adoptiert worden war. Hier findet dokumentarisches Theater seine Grenzen in der Fiktionalität und muss sich mit den Klassikern, den zeitlos gültigen Dramen seit der Antike, messen lassen. Bloße Entrüstung hätte vielleicht im Zusammenhang mit den digitalen Filterblasen und ihren Echokammern gut problematisiert werden können. Aber dann hätten auch die handelnden Figuren, die in ihrer Begrenztheit und ihren Schwächen bei Euripides oder Shakespeare exzellent gestaltet und in ihren Handlungszwängen und Absichten vorgestellt, auch bei Milo Rau genauer gearbeitet sein müssen. Erfahrungsfreie Räume gibt es nicht, auch wenn die weitverbreitete zeitgenössische Einkapselung à la Neue Medien und auch den damit verbundenen Generationskonflikten es vermuten lassen könnten.

Bei der Schiffsrettung wird zuvor der SOS-Notruf abgesetzt und gerettet werden die Körper. Das Festival Interferences erinnert uns daran, dass der Sinn des SOS-Notrufs darin besteht, die Seelen zu retten. Ihnen verlangt es nach Teilhabe, nach einer gemeinsam geteilten Aufmerksamkeit. Eine Einkapselung in technischer Hinsicht oder wie handelsüblich in der analogen Memorialkultur führt dagegen zu einer Abschottung mit festen Größen kollektiver Binnenmoral und ihren obligatorischen Opfern. Das Theaterfestival führt mit der Zurückweisung solcher Tendenzen der Abschottung die Suche nach Sinn und Sinnstiftung in Cluj-Napoca an. Anders als es die Plastik vom Gründungsmythos der Stadt Rom und seine inszenierte Herkunftsgeschichte für Cluj-Napoca nahe legt, hat man am Theater das Prinzip origo verstanden. Diese Pointe zum „Denkmal“ für Romulus und Remus lässt sich bei Florence Dupont nachlesen: Rom – Stadt ohne Ursprung. Die Pointe also lautet: Es gibt keinen Ursprung. – Es gibt nur eine Diversität in gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Anerkennung. Dafür steht das Prinzip origo. Interferences ist also auch der Name für eine unvollendete Sinnsuche. Theater ist und bleibt ein offenes Projekt, inhaltlich wie formal.

Published on 21 January 2019 (Article originally written in German)