Governance, Geister und Elektrizität
Die Basslinie des Tages blieb unausgesprochen: In Vielfalt geeint. Aus Athen und Bukarest, aus Luxemburg, Moskau, Sofia und Wien kamen am 17. September 2017 künstlerische Leiter der UTE-Theater nach Belgrad ins Jugoslovensko dramsko pozorište/Jugoslawische Dramatheater. Nach einer ersten Konferenz im vergangenen Jahr in Mailand galt der Schwerpunkt im Austausch über die unterschiedlichen Theaterstrukturen diesmal den Ländern Ost- und Südosteuropas. Erstmals mit dabei Boris Yukhananov vom Stanislavskij Elektrotheater in Moskau. Eine Annäherung an das jüngste Mitglied in der Gruppe der UTE-Theater.
Der Dialog über die Theaterstrukturen, über ihre spezifischen Probleme in Ost- und Südosteuropa, fand an einem Ort statt, der bis vor noch nicht allzu langer Zeit ein europäisches Zentrum der Bewegung der Blockfreien Staaten war. An diesem raumzeitlichen Scheideweg fiel der Zusammenprall zweier Governance-Modelle ins Gewicht, der sich im Verlaufe der EU-Osterweiterung in den letzten 28 Jahren entfaltete. Inês Nadais schreibt in diesem Online Magazin über die Konsequenzen dieser Entwicklung, indem sie auf die Diskussionsbeiträge zur divergierenden finanziellen Ausstattung der Theater in Europa fokussiert. Hinzufügen könnte man der Debatte aber auch die populäre Beschreibung dieses Zusammenpralls durch Naomi Klein in ihrem Buch über die Schockstrategie. Und eine weitere Frage stellen, die wohl vielen der Teilnehmer an der Debatte in Serbien durch den Kopf ging: Wer kennt schon die Inhalte der Östlichen Partnerschaftsprogramme? Wer informiert sich über die Gegenstände von Assoziierungsabkommen?
Im Freiraum leibhaftiger Begegnung
Einmal mehr wurde deutlich, wie wichtig Mobilität für den künstlerischen Austausch ist. Die persönliche Begegnung von Theatermachern diesseits und jenseits der Bühnenkante unterbindet nicht, was ein „körperloser“ Gedankenaustausch im digitalen Zeitalter nicht selten als Ansammlung von Affekten in den „Sozialen Medien“ oder den Kommentarspalten der Onlinepublikationen großer und kleiner Medienhäuser weltweit anstaut. Regierungen schwingen sich immer häufiger auf, diesen Stau mit Gesetzespaketen gegen „Hassrede“ und „Fake News“ moralisch einwandfrei einzudämmen. Dazu muss ich beim leibhaftigen betreten des Konferenzsaales an Kadett Pirx denken, der in so vielen literarischen Parodien des polnischen Schriftstellers Stanisław Lem das Paradebeispiel für solcherart Konflikte des Körpers mit der „Virtuellen Realität“ abgibt. Eine „Realität“, für die Lem 1963 in seinem Buch Summa Technologiae schon den geeigneteren Begriff der „Phantomatisierung“ geprägt hatte. Erstaunlich, dass im Silicon Valley die Ideen der Science-Fiction-Autoren nachgebaut werden, ohne aber die ethischen Probleme mitzudenken. Eingearbeitet in die Kybernetik und überzeugt von der Spieltheorie bleiben diese so oft als Innovatoren gelobten „Erfinder“ des digitalen Zeitalters weit hinter den Erkenntnissen zurück, unter denen Lem in der Summa zentral formuliert: „Das ‘Umsteigen’ von einer Persönlichkeit in eine andere ist weder als reversibler noch als irreversibler Prozeß möglich, weil zwischen solchen Metamorphosen eine Periode der psychischen Vernichtung liegt, die mit dem Aufhören der individuellen Existenz gleichbedeutend ist.“
Werden Gesetzespakete dem Aufbegehren zum Erhalt der individuellen Existenz etwas entgegensetzen können? – Zugegeben, die Lemschen Reflexionen begleiteten mich im Verlaufe der Konferenz wie ein Bewusstseinsstrom. Aber einmal erweckt, blieben sie dann doch den ganzen Tag. Aus Sicht des Mediums Theater existiert ja eine zum Silicon Valley gänzlich andere Beschaffenheit des „Sozialen“ eines „Mediums“. Der von Metamorphosen geprägte zwischenmenschliche Bereich ist für Theatermacher Alltag. Metamorphosen passieren diesseits und jenseits der Bühnenkante andauernd, immer aber als leibhaftiges Ereignis. Ohne sie wäre kein Theaterereignis vorstellbar. Phantomatik deutet auf das Wissen um den Körper als ein Ort für Gespenster hin. Mittels der Leidenschaften der Seele bahnen sie sich bekanntlich ihren Ausdruck. Liebe, Hass und Begierde sind ihre hauptsächlichen „Werkzeuge“. Während die Spieltheorie nur die Begierde kennt und die Liebe und den Hass vergisst, braucht die Theaterarbeit einen vollständigen Werkzeugkasten, um frei zu neuen Taten aufbrechen zu können.
Die abgetakelten Geister der Stanislavskij-Methode
Treffen sich Theatermacher, um über die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Arbeit zu sprechen, sitzen die Geister der Vergangenheit mit auf der Besuchertribüne. Die körperliche Präsenz und damit die internalisierten Handlungspraxen kulturell unterschiedlicher geographischer Räume haben dabei nur bedingt Platz für einen eigenen Ausdruck. Ihre ungefragte Anwesenheit ist vielmehr vergleichbar mit einer Basslinie, auf die sich alle Beteiligten unausgesprochen eingelassen haben und die das Motto der Europäischen Union mit den Worten In Vielfalt geeint treffend zu beschreiben sucht. Der Einfluss des stalinistischen Kirchenstaates hatte in den Theatersystemen der Länder Ost- und Südosteuropas mit der Stanislavskij-Methode eine gewisse normsetzende Popularität. Von den Absichten eines der Begründer des Moskauer Künstlertheaters um 1900, Konstantin Stanislavskij, sehr verschieden, handelte es sich bei dieser Methode für die Schauspielkunst um eine rigide Exegese, die auf einem Naturalismusverständnis basierte, für das Dramatiker wie Anton Tschechov oder Maxim Gorki herhalten mussten, um einen „sozialistischen Realismus“ als ein formalästhetisches Programm zur Erziehung des „Neuen Menschen“ und zum Aufbau einer „Neuen Gesellschaft“ ausrufen zu können. Noch immer zeugen die Regalkilometer mit Publikationen an Büchern und Fachzeitschriften in Bibliotheken von den fruchtbaren geistigen Auseinandersetzungen während der Zeit der so genannten Ost-West-Konfrontation. Aber nur noch dort. In den Ländern Ost- und Südosteuropas ist dieser oft zitierte „Einfluss Moskaus“ längst verschwunden. Und nicht nur dort. Seit der herbeigeführten Implosion des sowjetischen Raumes, die in der Zeitenwende von 1989/92 resultierte, sind auch im früheren Zentrum mannigfaltige Strukturveränderungen geschehen, für die das Stanislavskij Elektrotheater nachhaltig steht.
Gewiss hätte die Kulturpolitik für Moskau, die frühere europäische Metropole, jetzt Megapolis, eine ganz andere Richtung nehmen können, nachdem der russische Regisseur Anatoly Vasiliev kurz nach der Jahrtausendwende sein Theater verlor, das die Stadtverwaltung zugunsten von neuem Wohnraum aufgab. Dem Stansilavskij Drama Theater, der letzten Wirkungsstätte des russischen Theaterreformers Konstantin Stanislavskij, hätte das gleiche Schicksal blühen können, als es in den Jahren 2003 und 2005 abbrannte. Als Wohnraum oder auch als ein um die eigentliche künstlerische Arbeit entkerntes Theater mit dem schillernden Logo seines Gründernamens hätte es für das Stadtmarketing ausgereicht, hier einen kommerziell erfolgreichen Gastspielbetrieb zu organiseren. Nach dem Prinzip „Kommunismus im Museum“ hätte das sicher gut funktioniert. Stattdessen lobte der ehemalige Kulturminister einen Wettbewerb aus, den Boris Yukhananov im Juli 2013 gewann. Zu diesem Zeitpunkt ist Yukhananov 56 Jahre alt und hinter ihm liegt eine lange künstlerische Karriere, die 1974 als Schauspieler für das Moskauer Puppentheater begann. Sie fällt nach seinem Studium am Woronesher Kunstinstitut genau in die Zeit der 80er Jahre, die geprägt ist von Glasnost und Perestroika. An der Russischen Theaterakademie in Moskau (GITIS) belegte er zusätzlich Regiekurse bei Anatoly Efros und Anatoly Vasiliev, assistierte bei ihren Arbeiten und unter den ersten Experimenten als Regisseur ist Capriccios, basierend auf Gerichtsdokumenten eines Verfahrens gegen Joseph Brodsky, das bekannteste. Auch ist Yukhananov kein Unbekannter in der freien Szene, seitdem er 1985 mit dem Teatr Teatr die erste nicht-staatlich finanzierte Theatergruppe in der Sowjetunion begründete.
Wie vielschichtig die Strukturveränderungen waren, die sich nach der Zeitenwende von 1989/92 in der Russischen Föderation vollzogen, beschreibt Boris Yukhananov in seinem Konferenzbeitrag aus der Sicht eines Theatermachers. Dabei fokussiert er auf die zwei europäischen Zentren in Russland, St. Petersburg und Moskau, von denen wir erfahren, dass sie traditionell immer schon eigene Formen der Finanzierung gehabt hätten. Das Kulturministerium auf föderaler Ebene unterstütze hier vor allem die großen Theaterbetriebe, wie das Mariinski-Theater oder das Bolshoi-Theater. Unter dem ehemaligen Kulturminister habe es Theaterneubauten gegeben. Seit dem Jahr 2000 hätte es viele künstlerische Prozesse gegeben, die heute nicht mehr zu stoppen seien. Die Theaterleute hätten die Freiheit gespürt, die Diversität und die Weltoffenheit. Die offenen Grenzen hätten Interaktionen mit asiatischen und europäischen Kulturen ermöglicht, was zu einer Vermischung beigetragen und durch die das Theater Grenzen überschritten habe. Dabei wäre das Theater nicht durch kommerzielle Dinge belastet gewesen. Forschung und Theaterlaboratorien hätten auch in den Ausbildungsstätten zu großen Veränderungen beigetragen. Viele junge und interessante Regisseure seien seitdem auf die Bühne getreten und nun gebe es ein sehr breites Spektrum, das mit den Stereotypen der Stanislavskij-Methode nichts mehr zu tun habe. Diese Prozesse könne man nicht mehr zurücknehmen und so seien es heute zwei Systeme innerhalb der Struktur, die miteinander konkurrieren,eines noch aus der Zarenzeit und ein modernes, womit eine Vielfalt an Strukturproblemen auftrete, mit denen das Theater in Russland heute umgehen müsse.
Zaubereien in Moskau
Wie eng die Strukturveränderungen mit den Erneuerungsprozessen der eigentlichen Theaterarbeit verbunden sind, dafür steht das Stanislavskij Elektrotheater symptomatisch. Zu dieser Einsicht gelangte schnell, wer auch den späteren Ausführungen Yukhananovs im Verlaufe der Konferenz Gehör schenkte. Es offenbarte sich ein grundsätzlicher Ansatz im Verständnis von Theaterarbeit, der die Quellen für künstlerische Produktion bereits in der Architektur des Hauses angelegt sieht: „Ich habe das Theater völlig rekonstruiert und umgebaut, von den Toiletten bis zur Bühne“, beschreibt Yukhananov, „wir haben eine sehr moderne Bühne und moderne Beleuchtung, deshalb nennen wir uns auch Elektrotheater. In den Umbau haben wir etwa eine halbe Milliarde Rubel gesteckt. Die Bühne hat diverse Möglichkeiten zur Transformation. Wir haben auch eine Bühne für Inszenierungen im Freien mit Platz für bis zu 400 Menschen. Wir sind aber nicht nur ein Theater. Wir arbeiten täglich und aktiv mit vielen Veranstaltungen. Es gibt auch Vorträge und Musikkonzerte.“
Es sind Mosaikteile, die sich bruchstückhaft zu einem Bild über zeitgenössisches Theater in Russland zusammensetzen. So führte Yukhananov aus, dass es eine Grundvoraussetzung sei, dass es in Russland eine hohe Wertschätzung für Theaterarbeit innerhalb der russischen Gesellschaft gebe. Und es finde sowohl nationales wie multinationales Theater statt. Ungebrochen hoch sei das Interesse der Gesellschaft am Theater, seitens der Zivilgesellschaft gleichermaßen wie seitens der Behörden. Das bringe allerdings auch Probleme mit sich. Eines sei der Fall Kirill Serebrennikov. Andere Probleme hätten mit Theaterfinanzierung zu tun. Sie finde auf Gemeindeebene genauso statt wie durch die Stadt, auf der Ebene der Provinzen, in die Russland heute eingeteilt sei, oder auf der Ebene der Föderation. Auch seien Eigenmittel der Theater gerne gesehen. Kein Theater könne aber ausschließlich vom Verkauf der Eintrittskarten existieren. Es gebe auch Sponsoren und Gründerräte, die innerhalb einer privaten Struktur Gelder auf jährlichem Niveau verteilen. Es hätte aber mit Vorlieben und Interessen zu tun, bei denen die Theaterarbeit in Konkurrenz zu Sportveranstaltungen stehe. Diesen Aspekt der Freiwilligkeit gelte es stets mitzuberücksichtigen, gerade wenn es darum gehe, ein Repertoire auf die Beine zu stellen.
Wie facettenreich der neue Bau, der das Stanislavskij Elektrotheater beherbergt, die Diversität in den nationalen wie multinationalen Gesellschaften verkörpert und ihren künstlerischen Ambitionen immer auch unter der Maßgabe des kulturellen Erbes Ausdruck verleiht, deutet bereits die prästalinistische Baugrube des Hauses an. Im Jahr 1915 ist es als eines der ersten Kinopaläste in Moskau eröffnet worden, als ARS Elektrotheater. Danach war es Heimat für Konstantin Stanislavskij, der hier ein Studio für Opern und Drama einrichtete. Sein Kopf bildet heute einen Teil des Logos des Hauses vor dem Hintergrund von Strahlen, die wie eine Hommage an Aristophanes wirken, als wären die hundertjährigen Geister der revolutionären Vergangenheit humorvoll im Namen des Hauses wie im Logo zur Ruhe gebettet. Das Ensemble wirkt wie eine Glocke einer in Europa nunmehr ausgestorbenen Glühbirne, unter der Geistesblitze provozieren mögen, denn unweigerlich machen sie dort der Parole Lenins, Sozialismus, das sei Sowjetmacht plus Elektrifizierung des Landes, alle Ehre. Der dreifachen Nutzung des Ortes – als Kino, als Opernstudio und als dramatisches Theater – versucht das Haus auch in der Gegenwart gerecht zu werden. Sich mit der Programmatik des Hauses zu befassen verlangt Sensibilität für Zaubereien. Es muss ein magischer Ort sein, denn es ist offensichtlich gelungen, die Ambitionen der Gründergestalten des Moskauer Künstlertheaters von vor über einhundert Jahren von den Belastungen durch den Stalinismus zu befreien. Ambitionen, die mit den Wurzeln des Theaters in Europa verbunden sind, wofür der Versuch der Inklusion von Opernarbeit steht: „Ich persönlich denke“, schließt Yukhananov seinen Redebeitrag, dass es wirklich bedeutend ist, mit zeitgenössischen Komponisten zu arbeiten. Langsam entwickeln wir ein neues Gesicht für unser Theater. Sie machen sicher gerade eine Skizze vom Kopf, dann erscheinen die Augen noch dazu. Im Theater erhalten wir so einen Körper. Durch den Umbau bekommen wir auch einen neuen Körper. Für das Dramentheater ist es jetzt wichtig, dass es auch hören kann. Nun müssen wir Ohren hinzufügen.“
In der Tradition des Künstlertheaters
Das Stanislavskij Elektrotheater eröffnete in der ersten Spielzeit nach der Umbauphase mit der Inszenierung eines Stoffes, dessen Textgrundlage auch Stanislavskij 1908 am Moskauer Künstlertheater inszenierte: Der blaue Vogel des belgischen Dramatikers Maurice Maeterlinck. Yukhananov inszeniert diesen Text als eine theatrale Reise in drei Tagen, bei der auch eine Boing 777 zum Einsatz kommt, die an die abgestürzte Maschine über der Ukraine erinnern mag. Und wie es Yukhananov während der Konferenz sagte: „Wir sind offen für Dialoge und wir möchten kooperieren.“ – so steht auch der Besuch von anderen Theatermachern fest in der Tradition des Künstlertheaters. Einst lud Stanislavskij Edward Gordon Craig ein, um mit dem Ensemble Hamlet einzustudieren. Unter Yukhananovs Leitung realisierte bereits Heiner Goebbels Max Black, erarbeitete Theodoros Terzopoulos Die Bakchen des Euripides oder studierte Romeo Castellucci seine Inszenierung von Human Use of Human Beings gemeinsam mit dem Ensemble des Elektrotheaters ein. Der Internettrailer zur ersten Spielzeit, die im Jahr 2016 startete, beginnt mit Humor und endet humorvoll: Durch die Masken der Erwartung hindurch, in den Frauen Russlands Ziegen und den Männern Bären zu sehen, eröffnet sich vermutlich ein Multinaturalismus, der so verschieden von den bekannten Naturalismen des 20. Jahrhunderts ist, dass gewiss auch bald neue Forschung in der wissenschaftlichen Betrachtung einsetzen wird. Impulse setzt das Haus hierzu an erster Stelle. Das Dramatische und das Postdramatische, das Performative und das, was Theater seit der Antike immer auch war, nämlich Oper, scheinen sich am Stanislavskij Elektrotheater unter der zauberhaften Leitung von Boris Yukhananov zu einem Konzept der Klangökologie neu zu versammeln. Doch um das herausfinden zu können, sollte getan werden, wozu der Internetrailer auffordert: „Visit us“ – „Tverskaya Street 23“.
Published on 28 December 2017 (Article originally written in German)