Gaudeamus igitur…
oder Die Seele, nach dem Sieg
Standing Ovations nach der Italienpremiere des neu einstudierten preisgekrönten Glasnost-Klassikers Gaudeamus am 27. Januar 2016 am Piccolo Theater-Théâtre de l’Europe in Mailand. Basierend auf der Erzählung Das Baubataillon von Sergej Kaledin befragte die am 11. Juli 1990 einst erfolgreich gegen die Militärzensur durchgesetzte Uraufführung am Leningrader Maly Drama Theater (MDT) mutig den menschenverachtenden Umgang mit jungen Wehrpflichtigen in der sowjetischen Armee, den die jungen Schauspieler damals noch selbst erlebt hatten. 25 Jahre nach dem Ende des stalinistischen Kirchenstaates gastiert das Sankt Petersburger Gründungsmitglied der Union des Théâtres de l’Europe (UTE) – seit 1998 Maly Drama Theater-Théâtre de l’Europe – mit einer postsowjetischen Generation in den Rollen ihrer älteren Ensemblekollegen. Dem russischen Regisseur des Stückes und UTE-Ehrenpräsidenten Lew Dodin gelingt bravurös die Transmission eines kulturellen Erbes, dessen Wurzeln fest mit der Geschichte Europas verbunden sind. Die Verklärung der Vergangenheit – die für unsere Restaurationszeit heute leider so charakteristisch geworden ist – liefert die Spielwiese für die jungen Absolventen, die einen fruchtvollen Gedächtnisort zeitloser Relevanz einmal mehr mit Leben füllen.
Zivilisiert und noch heimatlich gekleidet kommen sie verstreut und zu den Klängen einer Marschmusik aus allen Himmelsrichtungen: Kostja (Evgenij Sannikov), Bogdan (Aleksei Morozov), Babai (Phillip Mogilnitsky), Vlad (Leonid Lutchenko), Itskovitch (Aleksandr Bykovskij), Sharaev (Artur Kozin), Bourmistrov (Beka Tculukidze), Milman (Evgeniy Serzin), Popov-Bielotchiski (Stanislav Tkachenko). Nacheinander betreten sie das Plateau, das auf der Bühne des Teatro Strehler schräg dem Publikum zugeneigt und der Länge nach etwa fünfzehn Meter breit und der Tiefe nach etwa fünf Meter lang ist (Bühne: Alexei Porai-Koshits). Darauf liegen Unmengen geschredderter weiß-farbener Plastikstreifen. Getaucht in ein helles Licht tapsen die Wehrpflichtigen suchend sich mit den Fußspitzen tastend vorwärts durch die Schneelandschaft, bis schwuppdiwupps sie in einem Erdloch untergehen, als würden sie ertrinken. Eingezogen. Abstieg heißt diese erste Szene.
Von der Heldenerschaffung und Maulheldentum
Wir befinden uns zwischen den 60er und 80er Jahren irgendwo in der Sowjetunion. Jenseits der zivilisierten Welt existiert die Welt des Militärs. Es hegt eigene Erwartungen an das formbare Material, den jungen männlichen Körper mit seinen intimsten Wünschen und Gedanken. Eingekleidet in die Uniform der Roten Armee klettern die jungen Männer durch die Luken wieder in den Schnee zurück. Nun geht es richtig los. Im Galopp reiten wir mit den Rekruten durch die Grundausbildung:„Kompanie, still gestanden!“, „Richt euch!“, „Augen gerade aus!“ – geübt wird alles, auch das „machen“ einer Meldung. Das unverständliche Befehlsgebelle der Ausbilder auf den Kasernenhöfen dieser Welt gleicht sich. Das gilt auch für die Schikanen beim Stubendurchgang. Gewieft wedelt der Major (Pavel Gryaznov) mit einem weißen Taschentuch vor den Augen der Rekruten. Auf dem Türrahmen über dem Eingang hat er ein Körnchen Staub gefunden! Es drohen Konsequenzen!
In der Szene Leibesübungen kommt es zum Eklat. Eine Flatulenz unterbricht das sportliche Kräftemessen von Liegestützwettbewerb bis Hantelstemmen. Eine Prügelei zwischen kraftmeiernden Maulhelden beginnt. Itskovitch, der nachdenkliche unsportliche Jude, wird am Ende von allen verdroschen bis zur Bewusstlosigkeit. Und beim Formaldienst tritt Leutnant Shamtchiev (Stanislav Nikolskii) jedem zwischen die Beine, der nicht in der ausgewiesenen Grundstellung zum Stehen kommt: Abstand der Fußspitzen zueinander im Winkel von 20°, Brust raus, Bauch rein, Arme angewinkelt, Fingerspitzen in Hüfthöhe an die Hosennaht und überhaupt das Grüßen! Grüßen, gehen, stehen, sitzen, schlafen … die natürlich von der Hand gehenden Handlungen werden hier neu sozial zusammengesetzt und nach militärischem Procedere normiert. Das Menschenmaterial wird passend gemacht, angepasst an eine Dienstvorschrift, in der selbst Leutnant Shamtchiev zum Gelächter des Publikums immer mal wieder nachlesen muss.
Materialfehler oder Anpassungsschwierigkeiten?
Der erste Versuch einer Moskauer Truppe scheiterte daran, die sechsteilige Erzählung Das Baubataillon von Sergej Kaledin im Theater der Sowjetarmee in Moskau schon 1989 auf die Bühne zu bringen. Unionsweit berieten sich dort Offiziere, die entschieden, Das Baubataillon sei ein Messer in den Rücken der Sowjetarmee. Bereits der Veröffentlichung war ein offen ausgetragener Machtkampf zwischen Militärzensur und Kultursektor vorausgegangen. Geplant war die Erzählung für die Oktobernummer 1988 der Moskauer Literaturzeitschrift Nowy Mir. Ohne Zustimmung der Militärzensur wollte die Hauptverwaltung zur Wahrung von Staatsgeheimnissen in der Presse beim Ministerrat (Glawlit) keine Druckgenehmigung geben. Der Chefredakteur, der zuvor schon Manuskripte wie Die Baugrube des fast 60 Jahre verbotenen Schriftstellers Andrej Platonow durchsetzte, erhielt eine Ablehnung mit der Begründung, in Kaledins Erzählung werde ein außerordentlich niedriges politisch-moralisches Niveau der Angehörigen eines Truppenteils der Sowjetarmee gezeigt. Kaledin selbst geht das Risiko ein und beginnt in Gesprächen quer durch die Zensurinstanzen den Text bis zur Veröffentlichung im April 1989 zu verteidigen. Zuvor erscheinen Rezensionen in der Komsomolka „es gibt nichts schlimmeres als den Kasernenhofkollektivismus rechtloser Menschen“ und der Moskowskij nowosti „Glasnost ist zu wenig – wir brauchen auch Gehör“. Im Radio Swoboda las Julian Panitsch den Text Kaledins und der wunderte sich, dass ihn niemand holte.
Die Zeiten hatten sich geändert. Lew Dodin und seine Truppe hatten mit den Moskauer Auseinandersetzungen nichts zu schaffen und probten von der Zensur ungehindert ein Jahr lang bis zur Premiere am 11. Juli 1990. Eine Klasse seiner Schauspiel- und Regieschüler an der Leningrader (Sankt Petersburger) Theaterhochschule, an der Dodin seit 1967 unterrichtet und zur Zeit das Institut für Regie leitet, nahm die Erzählung Kaledins als einen Ausgangspunkt, legte ihrem Spiel aber vor allem eigene Erfahrungen zugrunde, die sie in 19 Improvisationen verdichten und dem Thema zu allgemeiner Bedeutung verhelfen. Leitmotivisch übernommen findet sich das Erdloch als Latrine, in dem der Zigeuner Vlad und der Jude Itskovitch Fäkalien schippen, während der „Held“ Kostja die Fäkalien mit der Schubkarre abtransportiert. Auf der Bühne tragen Vlad und Itskovitch ihre Mützen wie einen Fressnapf unterhalb der Kinnlade. In der Szene Krieg ist Krieg fliegen Streichholzschachteln mit Stuhlproben der Rekruten aus diesen Fallgruben. In die Dialoge fließen auch die unflätigen Flüche und der Soldatenjargon aus Kaledins Erzählung ein. Schonungslos kommt alles zur Sprache, von Alkoholmissbrauch über Manövertote bis hin zur Bewegung der Entlassungskandidaten, die Rekruten nach Dienstzeit gerechnet in „Spritzer“, „Dachse“ und „Opas“ unterscheidet und auch die Persönlichkeit verachtende Dienste der „Spritzer“ für die „Opas“ umfasst.
Fröhliches Fracking
Befragt nach der Seele des Menschen antwortet Lew Dodin im Gespräch über Theater und Freiheit dem italienischen Theaterkritiker Luca Doninelli: „Das menschliche Gedächtnis neigt dazu, tragische Erinnerungen zu löschen. Unser menschliches Gedächtnis beseitigt unangenehme Erinnerungen und unangenehme Gedanken und versucht den Schmerz auszuradieren. Und eine der wichtigsten Eigenschaften des Theaters ist es, diesen Schmerz zu identifizieren, zu interpretieren und davon zu sprechen.“ – Diese dreiteilige Arbeitsweise hat der 1944 in Sibirien geborene Sohn eines Geologen in einer Vielzahl von Werken am Maly Theater in Sankt Petersburg umgesetzt, darunter Arbeiten wie Das Haus und Brüder und Schwestern nach Fjodor Abramow, Dämonen von Fjodor Dostojewskij, Tschewengur von Andrej Platonow, Sterne am Morgenhimmel von Alexander Galin oder Leben und Schicksal von Wassili Grossman. In ihnen finden sich die Grundkonflikte des Kirchenstaates vergegenwärtigt, in dem der Stalinismus den Traum vom neuen Menschen oder Die Sowjetzivilsation (Andrej Sinjawskij) ab Mitte der 20er Jahre zwangskollektivierte.
Dieser Bau wird bejubelt. Dieser Bau wird verflucht. Der Jubel ist dem Sieg zugewandt. Verflucht ist der bezahlte Preis. Dodins Interpretation des Schmerzes der jungen Menschen in Gaudeamus kommt dem Fracking gleich, durch das in tiefer liegenden Gesteinsschichten eingepresste Gase frei gesprengt werden. Diese Gase sind die Träume, die Sehnsüchte, die Wünsche und Hoffnungen der jungen Körper. Dieses Lasst uns alle fröhlich sein! gemahnt der ungenutzten Quellen jugendlichen Tatendrangs: Die zivile Seite ist das überzeugende Spiel vor Lebenskraft sprudelnder Schauspielabsolventen. Die militärische Seite ist die ironisch-komischen Überzeichnung der Verlotterung der menschlichen Seele im Alltag junger Rekruten im Grundwehrdienst. Im Jubel treffen beide Seiten dieser Medaille scheppernd aufeinander, wenn Dodin diesem stalinistischen Bau einen surrealen Chemie-Cocktail verpasst, der mit einer visuellen und akustischen Farbenpracht an Poesie aufwartet, die Assoziationsräume quer durch das Gedächtnis der „russischen Seele“ und Literatur eröffnen.
Da ist die Wäsche aufhängende dicke Babuschka (Marija Nikiforova), die für den jungen Rekruten Babai das sexuelle Abenteuer wird. Zugleich ist sie Frau des Leutnants und verkörpert Mütterchen Russland. Wer sich auf sie einlässt wird zu Tode geliebt und liegen gelassen wie Babai. Sie ist hier die Figur des Schnitters, der die Figur Wostschew in Platonow’s Die Baugrube zwangskollektiviert, die über den Tod verfügt und Nahrung spendet. Sie ist eine unsichtbare Macht, die unverhofft in die Mitmenschen eintaucht. Diese Macht lässt Itskovitch Kostja den Mund zuhalten, als der im Suff davon prahlt, er wolle nach Amerika und ruft „America, I love you!“ – Dieser Kostja, der nur im Schlüpfer bekleidet, mit seinem sportlich-durchtrainierten Körper einem sowjetischen Heldendenkmal zum verwechseln ähnlich sieht, als er mit Sehnsucht voll im schmachtenden Brustton dem bis zum Bauchnabel in der Kloake stehenden Vlad seinen Liebesbrief an Tatjana (Danna Abyzova) diktiert, die als flotte Biene in der Kaserne zum Lied Girl der Beatles ihr Vergnügen sucht.
Gefehlt hat auch nicht die Erste Liebe. Da steht ein Mädchen (Daria Rumiantseva) am See und wäscht sich die Haare. Der sie erblickende junge Mann ist nicht lange allein. Seine imaginierte Hochzeitsnacht mit ihr wird gleich darauf von allen anderen Rekruten tänzerisch begleitet. In einer anderen Szene schwingt in den Höhen des Bühnenraumes ein Klavier, auf dem das Pärchen Bogdan und Ludmila (Ekaterina Kleopina) zweifüßig mit ihren Zehen die Anfangstakte zu Mozarts 40. Symphonie g-Moll als Zeichen ihrer Liebe spielen. Es ist diese ferne Gewissheit, dass diese Projektionen jenes ungestillte Verlangen ausdrücken, die in der eingespielten Adaption des US-Songs One way ticket to the blues (Neil Sedaka) in seiner entjazzten russischen Variante Blaues Lied („Синий-синий иней лёг на провода…“) Volksliedqualitäten genießen und die Herzen in zwar nostalgischen aber eingetrübten Erinnerungen schwelgen lassen.
Der Quell der „russischen Seele“ ist bei Dodin eine eigenartige Symbiose aus Naturerfahrung, Fruchtbarkeitsmystik und scharfsinnigem Urteilsvermögen. In der Suche nach Wahrheit läd er Publikum wie Schauspieler gleichermaßen ein, der gleichzeitigen Verarbeitung verschiedener Rationalitäten zu folgen. Die dadurch parallel existierende Konkurrenz der Sakralitäten erzeugt immer wieder neue Brüche, die zum Lachen sind oder nachdenklich stimmen, wenn Ludmila, Tatjana, das Mädchen am See oder das Fräulein (Arina von Ribben) im Nachthemd erst Ballett auf Zehenspitzen um die Latrinen tanzen, anschließend aber in ihren feldgrünen Wattejacken rauchend auf dem Boden sitzen, von der Schönheit des Körpers singen, dabei Worte aus dem Kirchenslawisch verwenden, mit denen sie ihre Stimmen aus der Schöpferperspektive an uns richten. Vielleicht mag dies der göttliche Moment des Abends sein.
Gedächtnisort Theater
Ein wesentliches Element der Probenarbeit Dodins ist der leibhaftige Besuch der Originalschauplätze. Nach der Leseprobe von Grossmans Roman Leben und Schicksal bereiste die Truppe ein stalinistisches GULAG und Auschwitz-Birkenau, wo sie mehrere Nächte blieben. Die Proben zur Abramow-Trilogie führte die Truppe in das Dorf Pekaschino. Auch bei Neubesetzungen mit jüngeren Ensemblemitgliedern wird das so gehandhabt, damit der Faden zwischen den Generationen nicht abreiße. Im Gespräch mit Doninelli weist Dodin darauf hin, dass Theater die wirkliche Bedeutung von Leben ausdrücke. Kein menschliches Dasein komme ohne den Austausch von Gefühlen aus. Zwischenmenschliche Beziehung mache nur Sinn, wenn sie in der Beziehung zu unserem Verhalten zueinander gesehen werde. Künstler könnten hier viel besser die Suche nach Wahrheit teilen, als dies Politiker oder Historiker tun könnten.
Stimmen nun in der letzten Szene Akademie alle gemeinsam in das titelgebende Studentenlied Gaudeamus igitur… ein, dann ist auch hier, 25 Jahre nach der Uraufführung, das Band zwischen der ersten Schauspielergeneration und der postsowjetischen Abschlussklasse rituell erneuert. In dieser Neueinstudierung, die am 16. September 2014 am Maly Theater Premiere hatte, ist nur noch Marija Nikiforova noch mit an Board. Neben den Techniken der Schauspielkunst, die Dodin in der Tradition des Künstlertheaters nach den Methoden Stanislawskijs und Meyerholds vermittelt, dringen die jungen Schauspieler in die Welt des Grundwehrdienstes im stalinistischen Bau vor, in der ihre Vorgänger Schmerzen erlitten. Nun sind sie es, die Dodins Interpretation weiter leben lassen und von diesen Schmerzen sprechen. Sie sind es, die 25 Jahre nach Glasnost und Perestroika noch immer vermitteln, dass das Pantheon des Heldengedenkens schlecht in den vorgestanzten Schablonen der Dienstvorschriften sitzt und gar nicht auf den Quell jugendlicher Neugier passt, dass keine Nostalgie die wirklichen Anpassungsschwierigkeiten zu überspielen vermag, auch wenn die intonierte Musik – zivil oder militärischer Natur – bar jeden Ideengehalts eine jubelhafte Verheißung enthalten und den Körper in einen klirrenden Freudenzustand versetzen mag, was aktueller denn je ist, nicht nur in Russland.
Das unterscheidet Erinnerung und Gedächtnis. Das Theater Dodins, das am 1944 gegründeten Kleinen Dramatischen Theater (MDT) in Sankt Petersburg beheimatet ist, hält die Kulturtechniken bereit, mit denen frühere Erlebnisse und einmal erworbenes Wissen jederzeit wiedererweckt werden können. Das macht die Werke im Repertoire des Theaters zu Botschafterinnen jener Kulturen, deren Völker bitterböses Leid erfahren haben. Diese Kulturtechniken vermittelt Lew Dodin auch in seiner Masterclass, in der das ISO-Theater der Union der Theater in Europa (U.T.E.) gegründet wurde, deren Ehrenpräsident Dodin und deren Gründungsmitglied das Maly Theater ist. Lew Dodin ist Schirmherr der dezentralen U.T.E.-Akademie. Für seine Inszenierungen erhielt er zahlreiche Preise, darunter die Goldene Maske, den Lawrence Olivier Award, den Preis des russischen Präsidenten oder den Europäischen Theaterpreis für sein Lebenswerk.
Published on 24 February 2016 (Article originally written in German)